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Auroville in Indien: So ist das Leben im Aussteigerort

Frau sitzt entspannt auf einem Steg und schaut auf einen See. | © Thomas Barwick, Getty Images
© Thomas Barwick, Getty Images
Ist das Leben im Aussteigerort besser als hierzulande? Wir sprachen mit Journalistin Stefanie Rosenkranz, die seit einigen Jahren im indischen Auroville lebt.

Die Journalistin Stefanie Rosenkranz zog sich nach einer Lebenskrise in die spirituelle Stadt Auroville in Indien zurück. Sie findet: Man kann dort entspannter und erfüllter älter werden als in Europa. Ein Interview über Leben und Zukunft in der Aussteigersiedlung.

Seit zwei Jahren lebt Stefanie Rosenkranz im indischen Auroville, das 1968 als „utopische Stadt“ gegründet wurde. Eigentum, Herkunft, Geschlecht, Religion und Geld sollten hier nie eine Rolle spielen, die Bewohner sich vor allem dem spirituellen Wachstum widmen. Die ehemalige Journalistin aus Berlin studierte in den USA und arbeitete von 1986 bis 2015 beim „Stern“, davon viele Jahre als Korrespondentin in Paris und Istanbul.

DONNA: Sie haben in vielen Metropolen der Welt gelebt – was hat Sie ausgerechnet in das 3000-Seelen-Nest Auroville gelockt?
Stefanie Rosenkranz: Indien liebt man oder man hasst es. Mich faszinierte es, seit ich 18 war. Nach Auroville kam ich das erste Mal 2007. Ich hatte eine Krebserkrankung und eine Scheidung hinter mir. Spürte, dass ich etwas in meinem Leben grundlegend ändern musste. Und in dieser Stadt fühlte ich mich sofort auf dem richtigen Weg. Es waren weder das feuchtheiße Klima noch der nicht wirklich hübsche Strand. Die ganze Stadt ist ein gelebtes Experiment, eine Suche, das begeisterte mich auf magische Weise. Mit 55 sagte ich mir: „Jetzt oder nie!“ 

Wie haben Sie von der Existenz der Stadt erfahren? 
Das war während meiner Krankheit, von einer Schulfreundin, die jetzt auch dort lebt. Ich war immer ein sehr rationaler Mensch und habe alles Esoterische abgelehnt. Aber in Auroville erkannte ich, dass ich mich in meinem bisherigen Leben zu sehr der Spiritualität verschlossen habe. Wie sagt man so schön: Religion ist für Menschen, die in den Himmel kommen wollen, und Spiritualität für solche, die in der Hölle waren.

Was schätzen Sie an Ihrem Leben dort besonders? 
Die ökologische Grundidee, den Vegetarismus als Antwort auf Probleme wie Überbevölkerung und Massentierhaltung, das Grundeinkommen für alle, die Überzeugung, dass nicht Konsum und Arbeit über allem im Leben stehen. Und hier wohnen immerhin über 50 Nationen friedlich zusammen. Nur für den Esoterik-Hokuspokus, den hier manche ausleben, habe ich wenig übrig. Obwohl ich finde, dass wir im Westen viel zu rational leben. Wir sollten unser Herz ruhig mehr öffnen gegenüber Dingen, die wir uns nicht erklären können. 

Und die Schattenseiten?
Die beiden Gründer Mira Alfassa und Sri Aurobindo leben schon lange nicht mehr und insoweit ist das heutige Auroville kein Ashram unter einer geistigen Führung mehr. Niemand sagt dir, wo es langgeht, alle Entscheidungen werden basisdemokratisch getroffen. Das ist mühselig, langwierig und zuweilen bizarr. Gleichzeitig ist es ein Ort unglaublicher Freiheit und es ist interessant zu sehen, wie die meisten Menschen bis heute offenbar nicht gelernt haben, wirklich frei zu leben.

Wie sieht Ihr Alltag aus?
Ich arbeite an der Rezeption des ältesten Gasthauses, dem „Center Guesthouse“. Fünf Stunden pro Tag, sechs Tage die Woche. Dafür bekomme ich mein Grundgehalt von knapp 200 Euro. Mittags gehe ich in unserer Stadtkantine „Solar Kitchen“ essen und danach im Matrimandir, unserem spirituellen Zentrum, meditieren. Abends treffe ich mich dann mit Freunden, gehe ins Kino oder zu kulturellen Veranstaltungen.

Wie gehen die einst jungen Hippies von Auroville, die heute 70 und älter sind, mit dem Älterwerden um?
Gerade wird das erste Altersheim gebaut (lacht). Das Problem wurde lange ignoriert. Die Idee der ewigen Jugend durch Spiritualität, wie sie von Mira Alfassa einst proklamiert wurde, machte sie blind für die Herausforderungen des Älterwerdens. Das fängt schon bei der verspielten Architektur mit vielen Treppen und Etagen in den Häusern an. Niemand dachte an Rollstühle.

Auch ein Problem ist, dass sich nur wenige junge Menschen den Eintritt in diese Gemeinschaft leisten können. Das erste Jahr als Newcomer muss man komplett selbst finanzieren. Das ist nur möglich, wenn man erbt, auf eine Rente oder Angespartes zurückgreifen kann.

Möchten Sie hier alt werden?
Ich stelle es mir besser vor als woanders, im Moment zumindest. Die meisten Älteren hier sind viel fitter, geistig wacher, geselliger und mobiler als in europäischen Großstädten. Das müssen sie sein, weil sich die ganze Stadt über eine riesige Fläche im Dschungel verteilt. Man muss sich für jede Besorgung aufs Fahrrad oder Moped setzen.

Autorin: Natascha Salden