Wer an einer Depression erkrankt, sieht das Leben nur noch grau in grau. Vier Millionen Deutsche sind davon betroffen, sie leiden an Körper und Seele. Doch neue Therapiemöglichkeiten machen Hoffnung.
„Wenn dein Leben aus dem Wunsch besteht, sich unter der Decke zu verkriechen und nie wieder herauszukommen.“ – „Wenn du meinst zu ertrinken, während alle um dich atmen können.“ – „Wenn man davon überzeugt ist, dass man nicht in diese Welt reingehört.“ So beschreiben Betroffene ihr Leben mit Depressionen. Kerria Schneider kennt all das nur zu gut. Bereits im Studium hatte die ehrgeizige Designerin schlechte Phasen. Der totale Zusammenbruch kam aber erst viele Jahre später, als sie ihre Stelle in München kündigte, um für ihren damaligen Freund und einen neuen Job nach Hamburg zu gehen. „Ich hatte keine Konstante mehr. Wie mein Therapeut später meinte, kam da ein ganzer Katastrophenkatalog zusammen“, erzählt sie.
„Es begann im Australienurlaub vor dem Umzug: Ich war ständig müde, erschöpft, vertrug das Klima nicht, konnte mich an nichts erfreuen, nicht mal an der traumhaften Landschaft. Eines Morgens schließlich wollte ich in einem Café mein Frühstück bestellen – und kriegte kein Wort mehr raus. Da waren nur noch Tränen.“ Hinzu kamen heftige Ängste und Panikattacken. „Man sieht wochen-, monatelang kein Land mehr“, beschreibt Kerria ihre Gefühle von damals. „Jeder Hoffnungsschimmer ist weg, man fühlt sich einsam, isoliert, wie ein Ertrinkender, der keinen Strohhalm findet, an den er sich klammern könnte. Wenn ich in Hamburg über eine Alsterbrücke ging, wäre ich manchmal am liebsten runtergesprungen, damit dieses triste Leben endlich ein Ende hätte. Zudem hatte ich wahnsinnige Kopfschmerzen und Herzrasen.“
Bei einer Depression verliert das Leben seine Farbe. „So wie Verliebte alles durch die rosarote Brille sehen, sind die Gläser für Depressive grau“, sagt Prof. Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig und Vorstandsvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe. „Übrig bleibt nur das Negative.“ Mittlerweile gehört dieses Leiden zu den Volkskrankheiten. In Deutschland sind über vier Millionen Menschen betroffen, jeder Fünfte erkrankt im Laufe seines Lebens mindestens einmal an einer Depression, Frauen doppelt so häufig wie Männer. Depression ist mehr als eine Seelenkrankheit: „Sie betrifft den ganzen Körper, weil sie im Gehirn entsteht und das Gehirn den Organismus steuert“, sagt Prof. Martin Keck, Direktor der Klinik des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München.
„Das haben wir in den letzten zehn Jahren gelernt.“ Die Auswirkungen sind dann auch entsprechend vielfältig: Betroffene zeigen eine veränderte Herz-Kreislauf-Funktion und Darmtätigkeit, ihr Blutdruck steigt. „Die Krankheit erhöht das Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall um das Doppelte“, so Prof. Keck. Die meisten Menschen leiden wie Kerria an einer sogenannten unipolaren Depression. Sie haben in ihrem Leben mehr als eine depressive Episode, die Wochen, sogar Monate dauern kann. Andere wiederum gehen nicht nur durch depressive, sondern auch durch manische Phasen – typisch für Letztere sind unbändiger Tatendrang, meist gute, fast euphorische Stimmung, geringes Schlafbedürfnis, oft Kaufrausch. Hier spricht man von einer bipolaren affektiven Störung. Es gibt auch eine in der Regel leichter ausgeprägte, aber dafür chronisch verlaufende Form der Depression, Dysthymie genannt. Sie beginnt normalerweise im frühen Erwachsenenalter.
Klar, Phasen der Niedergeschlagenheit kennt jeder. Aber wo liegt die Grenze? Wann ist man nur schlecht drauf – oder bereits depressiv? „Es gibt heute eindeutige Kriterien, anhand derer man die Diagnose stellen kann“, sagt Prof. Hegerl. Zu den Symptomen zählen Antriebslosigkeit, tiefe Niedergeschlagenheit, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, Appetitverlust, die Neigung zu Schuldgefühlen, Hoffnungslosigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, oft permanente Angstgefühle, aber auch körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen – bis hin zu Suizidgedanken. „Bestehen vier bis fünf Symptome über zwei Wochen, deutet das auf eine Depression hin“, so Hegerl. Manchmal gebe es einen konkreten Auslöser – eine dauerhafte Überforderungssituation, ein Trauerfall, der Verlust des Jobs, ja sogar positive Ereignisse wie ein bestandenes Examen. In anderen Fällen komme die „schwarze Dame“ völlig ohne Ankündigung. „Entscheidend ist die Veranlagung, die genetisch bedingt, aber auch erworben sein kann, etwa durch Traumatisierungen und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit.“ Ohne diese Veranlagung wird man auch bei starken äußeren Belastungen, wie einer schweren körperlichen Erkrankung, nicht depressiv. „Als Fazit bleibt: Es kann jeden zu jeder Zeit treffen“, so der Experte.
Stellt sich die Frage, welchen Anteil unser modernes Leben hat. Zu viele, zu hohe Anforderungen von außen, gepaart mit Selbstüberforderung? „Zum Großteil entsteht Depression durch eine Entgleisung des Stresshormonsystems, das ja durch das Gehirn gesteuert wird“, erklärt Prof. Keck. „Dieses System hat im Körper zahlreiche wichtige Funktionen – wird es zu lange aktiviert, kommt es zu körperlichen Symptomen wie Bluthochdruck oder Reflux.“ Bei welchen Personen und unter welchen Bedingungen ein Alltag unter Dauerstrom für das Entstehen der Gehirnerkrankung wirklich von Bedeutung ist, ist noch nicht geklärt. „Klar ist, dass hier bestimmte Risikogene vorliegen müssen“, so der Neurowissenschaftler. Die Forschung dazu läuft gerade unter Hochdruck – genau wie zu dem möglichen Zusammenhang von Entzündungen im Körper und Depressionen. Auch Kerria hat versucht zu ergründen, wo die Ursachen für ihre Erkrankung lagen. „Erst dachte ich, ich hätte sie von meiner Mutter geerbt“, erzählt sie. „Bei ihr wurde das zwar nie offiziell diagnostiziert, aber sie zeigte alle Anzeichen. Heute denke ich, dass ich von ihr bestimmte Muster übernommen habe, die meine Depressionen begünstigt haben. Wie sie kann ich mich nicht abgrenzen, schwer Nein sagen oder klarstellen, wenn mir etwas zu viel wird. Daher überschreite ich oft meine Grenzen und bin dann wie ein Spielball, der hin- und hergeworfen wird.“
Ihre Kopfschmerzen damals wurden bald so extrem, dass Kerria einen Hirntumor fürchtete. „Auf Empfehlung einer Freundin stellte ich mich daher einem Neurologen vor, der auch als Psychiater arbeitete. Er machte einige Tests, stellte mir die richtigen Fragen: Wie es mir gehe? Ob ich immer müde sei, Angst hätte und mich über nichts mehr freuen könne? Endlich verstand mich jemand! Vorher hatte ich mir immer selbst die Schuld gegeben, dazu kam diese furchtbare Angst, verrückt zu werden. Der Arzt diagnostizierte eine mittelschwere Depression. Ich verließ die Praxis mit dem guten Gefühl: Jetzt weiß ich, was es ist. Und es gibt Therapien, dir mir helfen können.“ Die Hamburgerin bekam ein Antidepressivum verschrieben, das nach ein, zwei Wochen Wirkung zeigte. Die Tabletten sorgen dafür, dass Botenstoffe im Gehirn, die aus dem Gleichgewicht geraten sind, wieder richtig arbeiten. Kerria hat erlebt, wie sich das anfühlt: „Ich war wieder ich!“ Viele Menschen haben jedoch Angst vor diesen Medikamenten. „Aus meiner Sicht völlig unbegründet“, sagt Prof. Hegerl. „Tendenziell unterschätzen die Leute die Wirksamkeit der Mittel. Ein seit Monaten depressiv Erkrankter taucht wie aus einem langen, kalten Winter auf, nimmt Farben und Wärme um sich herum wieder wahr“, so der Experte. Die Antidepressiva würden weder abhängig machen noch die Persönlichkeit verändern, wie viele glauben. Kerria suchte sich zusätzlich einen Therapeuten für eine Verhaltenstherapie. „Ich machte bei zwei Psychologen Termine aus, einen mochte ich auf Anhieb. Bei Bedarf gehe ich noch manchmal zu ihm.“
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Haben heute immer mehr Menschen Depressionen? Gefühlt scheint es so zu sein, auch entsprechende Krankschreibungen haben stark zugenommen.
Nein, sagt dagegen Prof. Hegerl. Die Krankheit werde nur sichtbarer. Besser erkannt, beim Namen genannt – und nicht mehr hinter Diagnosen wie Tinnitus, chronischem Rücken- oder Kopfschmerz versteckt. Außerdem kommt, im Gegensatz zu früher, Hilfe jetzt an – das sieht man am Rückgang der Suizidzahlen in Deutschland von 18.000 pro Jahr Anfang der 80er auf inzwischen 10.000. Dennoch zeigen diese Daten, wie groß der Leidensdruck ist. Eine extrem schwierige Situation auch für Partner, Familie, Freunde, wenn man einen nahen Menschen auf einmal so ganz anders erlebt – oft abweisend, sich in ein Schneckenhaus zurückziehend, nicht mehr ansprechbar und eben lebensmüde.
„Angehörige müssen wissen, dass sie nicht schuld sind und dass Depressionen auch nicht mit Liebe zu heilen sind“, erklärt Prof. Hegerl. Kerria hat diese furchtbare Zeit überwunden. „Zum Glück ging es mir nie wieder so schlecht wie damals in Hamburg“, sagt sie. Aber es gab und gibt immer wieder Phasen, in denen ihre „dunklen Wolken“ am Himmel auftauch(t)en. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes zum Beispiel, als sie noch mal ein Antidepressivum nahm, oder in fordernden Job- und Partnerschaftssituationen. „In den eineinhalb Jahren Therapie habe ich viel über mich gelernt, fatale Muster erkannt. Daher kann ich jetzt schneller gegensteuern, besser Nein sagen und auf mich achten. Seit einigen Jahren mache ich Yoga und meditiere, das tut mir gut. Und zur Not bleibt der Griff zu den Tabletten, aber der war seit Jahren nicht nötig. Heute ziehe ich Kraft aus dem Wissen, dass ich die Zeit der dunklen Wolken überwinden und – zumindest immer wieder – auch ein glücklicher Mensch sein kann.“
Sich informieren: Wichtig ist, Depression zunächst als schwere Erkrankung anzuerkennen, die Stimmung, Erleben und Verhalten bestimmt – z.B. Appetit, Sexualität, Schlaf. Machen Sie sich schlau, was den Verlauf und Therapien betrifft.
Professionelle Hilfe organisieren: Depressive sehen die Schuld meist bei sich und kommen gar nicht auf die Idee, sich Unterstützung zu suchen (oder haben keine Kraft dafür). Weisen Sie auf die guten Behandlungsmöglichkeiten hin, machen Sie Arzttermine aus – und sorgen Sie für deren Einhaltung.
Ratschläge vermeiden: „Reiß dich zusammen”, „Das wird schon wieder” oder „Schalte mal ab” sind eher kontraproduktiv, da sie die Schuldgefühle verstärken. Haben Sie Geduld, fördern Sie die kleinen Schritte, aber vermeiden Sie übertriebene Fürsorge.
Auch an sich denken: Respektieren Sie die Grenzen Ihrer Belastbarkeit. Der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker bietet Unterstützung (psychiatrie.de/selbsthilfe).
DONNA: Äußert sich eine Depression immer durch Niedergeschlagenheit?
Christian Schubert: Nein. Es können auch körperliche Beschwerden auftreten – ausschließlich oder zusätzlich. Bis zu drei Viertel aller depressiven Patienten leiden an somatischen Begleiterscheinungen. Sie klagen beim Arzt über Schmerzen oder Schlafstörungen und dahinter verbirgt sich dann eine Depression. Häufig hat das mit einer Traumatisierung zu tun; die psychische Belastung kann nicht in Worte gefasst werden und wird deshalb mit dem Körper ausgedrückt. Diagnostiziert man bei den Betroffenen jedoch Anzeichen eines seelischen Leidens und schlägt eine Psychotherapie vor, fühlen sich viele gekränkt und wechseln den Arzt.
Macht der viel zitierte Dauerstress depressiv?
Gestresste Personen leiden unter ähnlichen Beschwerden wie depressive: Herz-Kreislauf- und Verdauungsprobleme, Ängste und Antriebsschwäche zum Beispiel. Auch die biochemischen Veränderungen im Körper sind vergleichbar. Die Ausschüttung der Botenstoffe in Gehirn und Nervensystem wie Serotonin, Noradrenalin, Dopamin und Cortisol verschiebt sich. Ein Burnout etwa geht in Richtung einer atypischen Depression. Wir wissen heute, dass einem Teil dieser Erkrankungen stressbedingte Entzündungen zugrunde liegen – wie bei der atypischen Depression.
Wie äußert sich diese Erkrankung?
Sie zeigt sich in verstärktem Schlafbedürfnis, Erschöpfung, Bewegungslosigkeit, Gewichtszunahme und erhöhten Entzündungswerten im Blut. Die Entzündung verursacht so was wie einen grippalen Infekt. „Sickness behavior“ heißt, man fühlt sich krank und verhält sich auch so. Zieht sich zurück, ruht aus, schläft viel.
Bei Infekten ist das alles wichtig für unseren Organismus: Der Körper kann so regenerieren und die Energie sparen, die das Immunsystem zur Abwehr der Krankheit braucht. Bei einer atypischen Depression ist diese natürliche Überlebensstrategie allerdings fehlgeleitet. Die Symptome der melancholischen Depression sind dagegen das genaue Gegenteil: Überaktivität, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Gewichtsverlust, Unruhe und Melancholie.
Woran erkennen wir solche Entzündungsprozesse?
Das ist höchst individuell. Aber wenn man den Eindruck hat, es geht einem nicht mehr so gut wie sonst, sollte man aufhorchen. Wichtig ist, dass man in sich geht, sich beobachtet, lernt, seinen ganzheitlichen Zustand wahrzunehmen. Die Umstände unserer Leistungsgesellschaft trainieren uns das ab – der Körper hat zu funktionieren wie eine Maschine. Seine Verbindung zur Seele spüren wir immer seltener.
Ist ja auch gar nicht so einfach.
Richtig. Viele stehen im Job so unter Druck, dass sie gar nicht fühlen dürfen, dass es ihnen schlecht geht – denn das hätte Konsequenzen: Sie müssten kürzertreten, mehr auf sich achten, würden womöglich ihre Arbeit verlieren. Eine psychische oder körperliche Erkrankung stellt oft den einzigen Ausweg dar.
Bipolare Störung erkennen und behandeln
Lässt sich eine Depression verhindern?
Aus der Psychoneuroimmunologie wissen wir, dass es Faktoren gibt, die Schutz bieten. Wenn wir etwa das Gefühl haben, dass wir für Dinge, die auf uns zukommen, gewappnet sind, dass wir sie kontrollieren können und uns zutrauen, mit ihnen fertigzuwerden, macht uns das widerstandsfähiger bei Stress.
Optimisten, die wenig Angst haben, können mit Stressoren besser umgehen. Wirklich hilfreich sind vertrauensvolle Beziehungen, ich bezeichne sie als Lebenselixier. Ebenfalls wichtig: Ziele im Leben zu haben, einen subjektiven Sinn zu sehen. Wer sich schnell überfordert fühlt und dabei auch körperliche Beschwerden entwickelt, sollte einen Psychotherapeuten um Rat fragen.
Interview: Monika Murphy-Witt