Stress-expertin

Stress abbauen: So üben Sie das freundliche „Nein!“

Um Stress zu vermeiden ist es wichtig, das Neinsagen zu lernen. Wie Ihnen das gelingt, erklärt Stress-Expertin Helen Heinemann im DONNA-Interview. | © CAIAIMAGE/RAFAEL RODZOCH GETTY IMAGES
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Um Stress zu vermeiden ist es wichtig, das Neinsagen zu lernen. Wie Ihnen das gelingt, erklärt Stress-Expertin Helen Heinemann im DONNA-Interview.

Helen Heinemann ist Expertin für Stress, Erschöpfung und Burnout. Als Mutter von vier Kindern kennt sie das Gefühl des „zu viel” nur zu gut. Ein Interview über Prioritäten.

Eine 40-Stunden-Arbeitswoche, private Sorgen oder die Doppelbelastung aus Beruf und Familie, der wir Frauen oftmals ausgesetzt sind: Stress begleitet viele von uns beinahe täglich – und kann uns an unsere Grenzen bringen oder im schlimmsten Fall im Burnout enden. DONNA-Autorin Nina Berendonk traf Stress-Expertin Helen Heinemann zum Interview und sprach mit ihr über selbstverursachten Stress, die Fähigkeit, Prioritäten zu setzen und wie es gelingen kann, einfach mal „Nein!“ zu sagen.

DONNA: Wir alle kennen diese Momente, in denen uns alles zu viel ist – zu viele SMS, zu viele Mails, zu viele Verabredungen – ist das ein Zeitgeist-Phänomen?
Helen Heinemann: Ja, ist es. Wir sind heute durch Handy, Computer und Co. mit unglaublich vielen Menschen vernetzt, die uns ständig erreichen können: Dann bewegt sich etwas auf unseren Bildschirmen und macht meistens auch noch einen Ton. Dadurch richten wir automatisch unsere Aufmerksamkeit darauf und haben den Impuls, auch sofort zu reagieren. Und während ich mich noch mit dem einen beschäftige, kommt schon das Nächste rein – auf das ich auch reagieren soll. So entsteht das Gefühl einer inneren Gehetztheit.

Aber es ist ja nicht nur das Digitale. Was ist denn mit diesem super-spannenden Event, zu dem ich jetzt auch noch eingeladen bin?
Wir sind als Menschen soziale Wesen und haben das Bedürfnis, dazuzugehören. Und wenn diese Zugehörigkeit infrage gestellt ist, bereitet uns das Stress. Bei einer Abendeinladung zum Beispiel geht es nicht so sehr darum, was inhaltlich stattfindet – sondern um die Menschen, die dort hingehen und vielleicht einen ähnlichen kulturellen Anspruch haben und interessant sind. Die Sorge, die uns umtreibt, ist: Wenn ich da jetzt nicht hingehe, werde ich vielleicht beim nächsten Mal nicht mehr eingeladen oder verpasse wichtige Informationen, um die Zugehörigkeit wiederherstellen zu können.

Der Mensch war doch früher auch schon ein Gruppentier. Warum stresst uns das heute so?
Es gab einfach weniger. In einer Gemeinde fanden die rituellen Veranstaltungen im Jahresverlauf statt – die Nikolausfeier, das Schützenfest –, das war sehr überschaubar. Heute sind wir viel globaler und komplexer vernetzt.

Inwiefern komplexer?
Da ist zunächst die Entwicklung des Individuums. Wir fragen uns heute: Wer bin ich eigentlich, was macht mich aus, was unterscheidet mich von anderen, zu welcher Gruppe will ich gehören? Das war früher schlichter. Man war und blieb viel stärker Teil einer angestammten Gemeinschaft anstatt einzigartiger Mensch. Das andere ist die Fülle der weltweiten Kontakte, die uns die digitalen Medien ermöglichen.

Und das zwingt uns ins Hamsterrad?
Das Bild vom Hamsterrad finde ich zu schwach: Das ist das Sportgerät des Hamsters, der geht da freiwillig rein und wieder raus, weil er ein Bewegungstier ist. Unser Gefühl ist ja eher: Ich stecke in einer Tretmühle und kann mich nicht daraus befreien. Ich bin hier Verpflichtungen eingegangen und will dort etwas gut machen; da hat jemand einen Wunsch an mich…

Täuscht der Eindruck, dass es vor allem Frauen sind, die sich da so überfordern?
Oh ja, es gibt deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Man muss gar nicht diskutieren, ob das nun genetisch oder sozial bedingt ist, aber: Frauen sind zuständig für das Soziale. Und sie haben einen deutlich weiteren Blickwinkel als Männer, was die soziale Gruppe, die Stimmung und die Gefühle anderer angeht. Wobei die modernen Männer da allmählich nachziehen. Aber das dauert noch.

Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Ich habe vier erwachsene Kinder und häufig Gäste zum Essen da. Oft sitze ich da und unterhalte mich – und kriege dabei trotzdem mit, dass da hinten jemand die Butter braucht, noch bevor dieser Mensch den Mund aufmacht. Was tue ich? Ich rede weiter und reiche dabei die Butter rüber. Das würde meinem Mann oder meinem Sohn nicht einfallen, obwohl das sehr nette und sehr sensible Männer sind. Aber das kriegen die gar nicht so mit. Die unterhalten sich jetzt gerade. Na ja, und wenn man das über einen Tag hochrechnet ...

„Fahr doch die Antennen ein“, sagen Männer an dieser Stelle oft.
Meiner auch! Dann antworte ich: „Wie denn?“ Wir haben nun mal ein besseres Sensorium für die Erwartungen anderer. Dazu kommt die unglaubliche Summe an Aufgaben und Verantwortung, die uns das Leben als moderne Frau beschert: Berufstätigkeit, Haushalt, Kinder ... das ist eine ganze Menge.

Viele Frauen sind auch noch sehr perfektionistisch veranlagt: den Freundinnen einen gekauften Kuchen servieren? Niemals.
Da sind zum einen die hohen Ansprüche an sich selbst, die über gesellschaftliche Bilder oder Werbung weiter angefeuert werden. Und innere Antreiber, die uns zum Beispiel einflüstern, dass man etwas leisten muss, um geliebt zu werden. Letztlich steht auch dahinter wieder die Sorge, nicht mehr dazuzugehören, in einer Gruppe an den Rand gedrängt zu werden: Und wenn die Freundin immer selbst backt, denke ich, ich müsste das auch tun. Auch wenn ich eigentlich gerade gar keine Zeit dafür habe.

Und wie kommen wir da jetzt wieder raus?
Indem wir das „freundliche Nein“ üben. Und uns klarmachen, dass jedes freundliche Nein zu anderen ein Ja zu uns selbst ist. Zu was sage ich Ja? Zum Beispiel dazu, dass ich jetzt einen gemütlichen Feierabend mit meinem Mann habe und wir eine Flasche Wein aufmachen – anstatt dass ich in der Küche stehe und noch einen Kuchen backe. Das freundliche Nein kann auch bedeuten, dass meine Bürotüre manchmal zu ist, aber zu bestimmten, vorhersehbaren Zeiten auch wieder offen. Darauf können sich auch meine Mitmenschen einstellen. Die wissen dann, sie kriegen nicht 100 Prozent offene Tür oder 100 Prozent selbst gebackenen Bio-Kuchen – aber trotzdem eigentlich alles, was sie brauchen: Die Möglichkeit, mit jemandem zu reden. Oder einen leckeren Kuchen. Aber eben vom Bäcker.

Dann geht es also darum, Prioritäten zu setzen?
Ja. Und eine Wertehierarchie zu schaffen. In dieser Hierarchie ist der Abend mit meinem Mann nach einem langen Tag auf Achse mehr wert als diese Frauengruppe, der ich mich mit meinem Bio-Kuchen anpassen will. Was natürlich nicht heißt, dass ich jetzt für niemanden mehr Kuchen backe: Meine liebste Freundin bekommt natürlich einen. Weil sie mir wichtig ist und die Freundschaft mit ihr einen hohen Stellenwert hat. Das muss man sich mal in einer ruhigen Minute klarmachen, anstatt sich immer nur weitertreiben zu lassen: Ich entscheide, wofür es sich lohnt, sich ins Zeugs zu legen – und was unwichtig ist.

Gilt das auch für die vielen Dinge, die wir in unseren Wohnungen anhäufen und die das Gefühl des „viel zu viel“ verstärken?
Ich glaube, viele Leute kaufen so viel, weil sie die Idee haben, dass es dann zu Hause schöner und gemütlicher wird. Als meine Kinder klein waren und wir wenig Geld hatten, habe ich es immer genau umgekehrt gemacht: Ich habe mich von Sachen verabschiedet. Danach war es gefühlt ein Stück aufgeräumter und die Atmosphäre in der Wohnung wieder angenehmer – obwohl nichts neu war.

Und wie räumen wir unsere digitale Kommunikation auf?
Indem man ganz praktisch Reize reduziert. Klingelton ausstellen, SMS stumm stellen und dafür sorgen, dass sie nicht auf dem Sperrbildschirm aufpoppen und unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Nachrichten kann man dann abends in Ruhe und gesammelt beantworten, wenn man Zeit hat. Ich würde übrigens auch die Lesebestätigung ausschalten. Denn das stresst ja auch, wenn man weiß, dass der andere sehen kann, ob man die Nachricht gelesen hat. Auch am Computer habe ich alles so eingestellt, dass ich von eintreffenden Mails nichts mitbekomme. Sonst hätte ich nie ein Buch zu Ende schreiben können.

Und wenn Ihnen mal zu Hause alles zu viel wird?
Mein Mann kann im größten Trubel abschalten. Ich nicht. Also brauche ich äußere Grenzen, um mich zurückzuziehen. Wenn unsere erwachsenen Kinder bei uns einfallen und es mir zu viel wird, ziehe ich mich in mein Zimmer zurück und mache die Türe zu. Und wenn dann wirklich jemand direkt etwas von mir will, kann er ja klopfen.