Die Kunst, sich einen Kopf zu machen

Philosoph Wilhelm Schmid im Interview

Frau beim Relaxen | © WESTEND61 GETTY IMAGES
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Welche Dinge sind es wert, darüber nachzugrübeln – und wann sollten wir gelassen bleiben? Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid sprach mit DONNA über die Kunst, sich einen Kopf zu machen.

In „Gelassenheit” lehrte er uns das Innehalten, jetzt fordert er mehr „Wir-Gefühl”. Der Philosoph und Bestsellerautor Wilhelm Schmid trifft mit seinen Büchern den Nerv der Zeit. DONNA-Autorin Julia Meyer-Hermann besuchte ihn in Berlin.

Sein größter Erfolg heißt „Gelassenheit“. Mehr als eine halbe Million Mal verkaufte sich Wilhelm Schmids philosophischer Ratgeber, beeindruckende 145 Wochen stand er auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Ende März 2018 erschien mit „Selbstfreundschaft“ ein neues Werk des Berliner Philosophen.

Wenn man den 64-Jährigen in seiner Dachgeschoss-Wohnung in Berlin-Charlottenburg trifft, platziert er den Besuch auf dem in die Jahre gekommenen Sofa – „denn da sitzt man besonders gemütlich“. Man kann sich gut vorstellen, wie der gebürtige Bayer dort an seinem schmalen Schreibtisch sinniert und schreibt: hinter ihm deckenhohe Buchregale, an den Wänden zeitgenössische Malereien, dazu einige Familienfotos. Vor ihm die Aussicht auf die Dächer und den Himmel.

DONNA: Herr Schmid, Ihr Thema ist die Lebenskunstphilosophie. Würden Sie sich als Lebenskünstler bezeichnen? 
Wilhelm Schmid: Nein, denn das ist bedauerlicherweise ein gesellschaftlich belasteter Begriff. Unter einem Lebenskünstler versteht man jemanden, der einfach in den Tag hineinlebt. Der philosophische Lebenskünstler ist das genaue Gegenteil, der macht sich ständig einen Kopf über das Dasein an sich, versucht, die Zusammenhänge zu verstehen und entsprechend zu leben.

Um ein glückliches Leben zu führen?
Glück ist wankelmütig, das gibt es nur für kurze Zeit. Menschen, die auf das Glücklichsein als Lebensziel setzen, machen sich unglücklich. Über das Gelingen können wir auch nicht beliebig verfügen, daran sind andere Menschen und immer die Verhältnisse beteiligt.

Was verfolgen Sie dann mit Ihrem Ansatz der Lebenskunstphilosophie?
Es geht im Leben um unser Bedürfnis, sinnvoll zu leben. Wie wichtig Sinn ist, erkennt man in einer Beziehung oder Freundschaft. Der Geliebte oder der Freund macht einen nicht jeden Tag und jede Nacht glücklich, trotzdem trennt man sich nicht sofort – aus dem einfachen Grund, dass man einen tieferen Sinn in diesem Zusammenhalt erkennt.

Sie haben über viele Jahre als Philosoph in einem Krankenhaus in der Nähe von Zürich gearbeitet. Vermutlich suchen die Menschen im Angesicht von Krankheit und Tod oft ganz stark nach Sinn.
Ich habe meine Arbeit dort als philosophische Seelsorge bezeichnet. Oft holten mich die psychologischen Berater und sagten: „Der hat keine psychische Erkrankung, der hatte keine verkorkste Kindheit. Der braucht uns gar nicht.“ Therapeuten stellen die Frage nach dem Sinn eher weniger. Theologen beschäftigen sich damit, aber viele Menschen wollen keine religiösen Antworten auf diese Fragen. Weil sie mit Religion menschenunfreundliche Dogmen verbinden; das Christentum hat lange gegen das „Ich“ gepredigt. Keine gute Vertrauensbasis für sehr persönliche Fragen.

Was macht der philosophische Trost da besser?
Viele Menschen brauchen ein Gegenüber, das ihnen hilft, bestimmte Gedanken, die sie bereits in sich tragen, ans Licht zu bringen. Heute sind so viele Fragen ungeklärt und offen. Die Generation meiner Eltern hatte ganz strikte Vorgaben. Bei uns auf dem Dorf war alles eingebettet in religiöse und traditionelle Erklärungsmuster. Liebe, Kinder, Krankheit, Sterben, Tod. Selbst fürs Essen gab es feste Regeln: Mittagessen um zwölf, Abendessen um sechs, kein Fleisch am Freitag. Heute sind viele ratlos, wie sie leben können, wollen und sollen. Es hilft auch nichts zu sagen, man könne doch zurückkehren zu Tradition und Glauben. Das will keiner.

Sie sind in einem Dorf aufgewachsen, als Sohn eines Landwirts mit sechs Kindern. Wie kamen Sie zur Philosophie?
Den philosophischen Impuls habe ich von meinem Vater. Den Charakterzug, eigenständig über Phänomene nachzudenken, Schlüsse zu ziehen. Und diesen Entscheidungen auch zu folgen, selbst wenn sie konträr zur Meinung anderer sind. Es beeindruckt mich zutiefst, was für Gedanken mein Vater sich als einfacher Bauer ohne höhere Schulbildung gemacht hat.

Wann haben Sie sich ausgetauscht? Gab es bei Ihnen lebendige Diskussionen, etwa beim gemeinsamen Essen?
Bei Tisch ging es nur um den Hof, den Stall voller Kühe, die noch zu erledigenden Aufgaben. Aber spätabends, wenn mein Vater noch mal raus musste auf die Wiesen, um das Futter für den nächsten Tag einzuholen, bin ich gerne mitgegangen. Mein Vater wurde sehr besinnlich, wenn die Dämmerung kam und die ersten Sterne zu sehen waren. Er hat mir in diesen Stunden viel erzählt und erklärt.

Hat er Ihnen die Philosophie nahegelegt?
Meine Eltern haben beide gesagt: Der Junge muss aufs Gymnasium. Meiner Mutter war es sehr wichtig, dass mir bewusst ist, meine geistige Veranlagung kommt auch von ihrer Seite. Sie hatte nämlich nur Einsen im Zeugnis. Aber ich wollte gar nicht aufs Gymnasium, obwohl ich sehr gern lernte.

Warum nicht?
Ich hatte Angst, mein Dorf zu verlassen. Also habe ich die Mittlere Reife gemacht und dann haben mich meine klugen Eltern eine Lehre als Schriftsetzer machen lassen. „Du magst Bücher, dann weißt du, wie sie hergestellt werden.“ Das hilft mir bis heute. Ich habe dann viele Umwege genommen. Sehr jung geheiratet, ein Kind bekommen, mich schnell wieder scheiden lassen. Dann habe ich mich für vier Jahre bei der Bundeswehr verpflichtet. Einfach, weil ich keine bessere Idee hatte. Im Nachhinein war das ein Glücksgriff.

Was hat dem späteren Philosophen am Soldatenleben gefallen?
Ich war damals nicht mal ansatzweise Philosoph. Sondern ein junger Vater, der Geld verdienen musste. Mir hat der Zusammenhalt dort gefallen, ich habe Freunde gewonnen, die mich bis heute begleiten. Und ich konnte mich dort weiterbilden. Das hat mir dann endlich gezeigt, wo mein Potenzial liegt. Ich habe das Abitur nachgeholt und mich für Philosophie eingeschrieben.

Haben Ihre Geschwister einen ähnlichen Weg eingeschlagen?
Meine Geschwister haben bodenständige Berufe. Meine jüngste Schwester ist Bäuerin geworden, aber sie liest neben ihrem anstrengenden Alltag alle meine Bücher! Ich bin sehr glücklich, Geschwister zu haben, die mir so vertraut sind und die ich bei jeder Gelegenheit anrufen kann.

Erst hatten Sie Angst vor einer größeren Stadt, später haben Sie sogar in Berlin und Paris studiert.
Seit einem Schulausflug nach Berlin wusste ich: Das ist meine Stadt. Hier willst du leben. Während des Studiums dort habe ich aber gemerkt, dass ich mich nicht gut konzentrieren konnte; ich wechselte nach Tübingen. Als es mir da zu eng wurde, ging ich nach Paris. Diese Zeit wurde zu einer der schwersten Herausforderungen meines Lebens.

Was war so furchtbar? 
Ich habe dort dummerweise versucht, ein Leben als Totalphilosoph zu führen.

Was ist das denn?
Ich habe geglaubt: Ein Philosoph braucht nicht viel zum Essen. Nicht viel zum Trinken. Er braucht auch keine Beziehungen. Der lebt nur für das Denken. Diesen Blödsinn habe ich ernsthaft umgesetzt. Ich war abgemagert, dehydriert, einsam. Und fühlte mich sterbenskrank.

Was hat Sie zur Einsicht gebracht? 
Während dieser schwarzen Phase habe ich irgendwann in den Schriften von Michel Foucault entdeckt, dass er die antike Philosophie für eine Philosophie der Lebenskunst hielt. Das war mir neu. Vor ihm hatten die Wissenschaftler den Begriff „ars vivendi“ immer als „Ethik“ oder „Sittlichkeit“ übersetzt. Lebenskunst hatte in der großen Philosophie nichts zu suchen. Ich habe dann angefangen, die Originale für mich zu übersetzen und herauszufinden, wie sie uns in der Gegenwart helfen können.

Und wie hat die große Philosophie darauf reagiert?
Die Analytiker, die mich belächelten, waren ja nur frustriert, dass ihre Philosophie niemanden interessierte. Aber es gab zum Glück auch solche, die mich als jungen Wissenschaftler ermutigt haben.

Während Ihrer Zeit in Paris kamen Sie auch mit Ihrer Frau zusammen.
Wir waren uns nicht lange vorher begegnet, in einem Kurs zum Nachholen des Latinums im Münsterland. Mein erster Eindruck: Die ist so schön, die bekommst du nie! Als Astrid fürs große Latinum verlängerte, obwohl sie das nicht brauchte, verstand ich das als positives Signal. Obwohl und vielleicht genau weil es zunächst eine Beziehung auf Distanz war – wir lebten die ersten sieben Jahre an unterschiedlichen Orten –, gab es viel Raum für Entwicklung. Ich hatte bis dahin alle Beziehungen in den Sand gesetzt. Als ich nach Frankreich ging, war diese der seidene Faden, der mich am Leben gehalten hat. Mir wurde klar, dass Astrid eine Liebe fürs ganze Leben ist, ich das nicht versemmeln darf.

Was war bei Ihrer Frau anders als bei Ihren vorherigen Lieben?
Wir denken zusammen, nicht nur, aber auch. Das war von der ersten Sekunde an so. Mit meiner Frau kann ich alles besprechen, was mich beschäftigt. Das ist eine Form von Zusammenhalt, die enorm tragfähig ist. Viel weniger launenhaft als nur romantische Glücksgefühle. Wir sind inzwischen seit 35 Jahren ein Paar.

Passen Sie einfach wunderbar zusammen oder bedeutete das auch Mühe? 
Mit jeder Liebe kommen Schwierigkeiten, das ist für jeden so. Ich bin ein sehr romantischer Mensch und musste erst dahinterkommen, dass Beziehungen oft nicht romantisch sind. Diese Einsicht verdanke ich meiner Frau. Sie hat mir beigebracht, dass man im gemeinsamen Alltag ein gehöriges Maß an Pragmatik braucht. Sonst scheitert man an Rechnungen, Bettwäsche, Geschirrspülen. Manche Paare trennen sich wegen Problemen, die meine Frau und ich bereits morgens verfrühstücken.

Sie beide arbeiten Zimmer an Zimmer. Ihre Frau ist die Erstleserin Ihrer Texte, korrigiert sie. Gibt das auch mal Ärger?
Sie ist eine gnadenlose Kritikerin.

Und das nehmen Sie gut hin?
Zunächst war das tatsächlich schwierig, weil ich das Gefühl hatte, mich verteidigen zu müssen. Wir haben sehr miteinander gerungen. Trotzdem wollten wir an unserer Zusammenarbeit festhalten. Weil wir uns wunderbar ergänzen. Meine Frau kennt wie niemand anderes meinen Kampf um jeden Satz und jede Seite. Sie erkennt jede gedankliche Lücke im Text. Also haben wir das Verfahren verändert. Sie schreibt inzwischen ihre Kritik auf, ich schaue mir das in Ruhe an und prüfe ganz nüchtern, ob ich zustimme. In nahezu allen Fällen hat sie recht.

In Ihrem neuen Buch beschäftigen Sie sich mit der „Selbstfreundschaft“.
Der Auslöser war der zunehmende Narzissmus unserer Gesellschaft. Ich kritisiere da die übertriebene Selbstliebe vieler Menschen. Als Anfang der 80er-Jahre die Menschen angefangen haben, mehr an sich selbst zu denken und auch von sich zu reden, empfand ich das als notwendige Befreiung. Die Hinwendung zum „Ich“ war lange verpönt, verboten vom Christentum und verurteilt von der 68er-Bewegung, für die es nur das Zusammen gab. Aber aus dem guten Anfang ist eine extreme Betonung der Selbstliebe geworden. Dabei geht verloren, dass das Leben in einer Gemeinschaft, die man zusammen gestaltet, viel reicher ist.

Sie haben in „Sexout“ über die nachlassende erotische Beziehung unter Paaren geschrieben. Hat es Sie gekränkt, dass Sie mit diesem Buch nicht punkten konnten? 
Ich fand und finde das Thema wichtig. Studien haben gezeigt, dass nach ungefähr zehn Jahren Beziehung so gut wie kein Paar mehr Sex hat. Das ist deshalb dramatisch, weil meistens ein Partner ein Problem damit hat. Ich glaube, ich habe ein paar ganz gute Lösungsvorschläge geliefert. Aber die Menschen wollten dazu nichts lesen und werden ihre Gründe dafür gehabt haben.

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Interview: Julia Meyer-Hermann