Kraft der Pflanzen

Gemmotherapie: Wie Pflanzenknospen heilen können

Abgeleitet vom lateinischen Begriff „gemma“ (deutsch: „Knospe“), setzt die Gemmotherapie auf die sanfte Heilkraft junger Pflanzenknospen und -sprösslinge. | © SERGEEVA OLGA SHUTTERSTOCK
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Abgeleitet vom lateinischen Begriff „gemma“ (deutsch: „Knospe“), setzt die Gemmotherapie auf die sanfte Heilkraft junger Pflanzenknospen und -sprösslinge.

Die ganze Kraft einer Pflanze konzentriert sich in ihren jungen Trieben. Die Gemmotherapie setzt deshalb auf die heilende Wirkung von Knospenextrakten bei Allergien, Ekzemen oder Wechseljahresbeschwerden. Wie das funktioniert, klärt Expertin Dr. med. Barbara Bichsel im Interview.

Dieser Ableger der Pflanzenheilkunde ist buchstäblich auf dem aufsteigenden Ast: In der Gemmotherapie werden die frischen Knospen und Sprossen verschiedener Bäume, Sträucher und Co. zu Sprays, Tinkturen und anderen Gemmotherapeutika verarbeitet, um auf diese Weise ihre Energie und heilende Wirkung für den menschlichen Organismus nutzbar zu machen. Denn in den jungen Trieben der Pflanzen stecken besonders viele Vitamine, Enzyme, pflanzliche Eiweiße und Wachstumshormone, die sich die Gemmotherapie wiederum für die Behandlung akuter und chronischer Gesundheitsleiden von Atemwegserkrankungen bis hin zu Frauenleiden zunutze macht.

Wie genau das alternative Heilverfahren funktioniert und welche Beschwerden sich mit der Heilkraft der Knospen von Schwarzen Johannisbeere, Himbeere oder Birke lindern lassen, fasst Dr. med. Barbara Bichsel im Interview mit DONNA Online zusammen. Die Allgemeinmedizinerin und Buchautorin praktiziert in Schiers in der Schweiz. Ihr Ratgeber „Gemmotherapie. Die Kraft der Knospen“ erschien 2015 im Ulmer Verlag Stuttgart.

DONNA Online: Gemmotherapie basiert auf der Wirkung von Pflanzenknospen. Können Sie kurz erklären, wie die alternative Heilmethode funktioniert?
Jedes Frühjahr überraschen sie uns aufs Neue: Bäume und Sträucher, die stetig und sacht grüne Knospenspitzen entwickeln und schließlich wieder in reicher Fülle neu in jungem, sattem, frischem Grün leuchten. Die Wachstums- und Entwicklungskraft, die dazu bereitgestellt wird, hat die Menschen schon im Mittelalter dazu gebracht, dieses lebendige Pflanzenmaterial für den Menschen zugänglich zu machen. Doch erst Dr. Pol Henry, einem belgischen Arzt, glückte dies in den 1950er-Jahren. Die Idee, den Pflanzenauszug nicht wie sonst in der Pflanzenheilkunde üblich mit Alkohol zuzubereiten, sondern eine Mischung aus Alkohol, Wasser und Glycerin zu verwenden, verhalf ihm zum Erfolg. Durch diesen Schritt löste er die potenzierte Vitalität, die vor allem in den Pflanzenknospen enthalten ist, heraus und schuf die heilkräftigen Glycerolmazerate.

Bis zum heutigen Tag folgt die Herstellung diesem Grundprinzip: Das Lebendigste der Pflanzen im Frühling – die frischen Knospen und Triebspitzen – werden in einem Alkohol-Glycerin-Gemisch gebadet. Die Pflanzengewebe befinden sich in diesem Entwicklungsstadium in der Zellteilung. Sie enthalten also reichlich pflanzliche Wachstumsfaktoren, wie zum Beispiel Auxine und Gibberelline, aber auch andere für den Menschen wertvolle Inhaltsstoffe wie Aminosäuren und Flavonoide. Die Gemmotherapie nutzt lediglich Knospen und Triebspitzen; andere Pflanzenteile oder Früchte werden nicht verwendet. Der Name „Gemmotherapie“ geht dabei auf das lateinische Wort „gemma“ zurück, das „Knospe“ bedeutet.

Gegen welche Beschwerden bzw. in welchen Anwendungsbereichen lässt sich Gemmotherapie sinnvoll einsetzen?
Heutzutage setzen immer mehr Heilpraktiker und Ärzte die Gemmomazerate ein, entweder begleitend oder alternativ, das hängt ganz vom Krankheitsbild des Patienten ab. Symptomlindernd und unterstützend helfen Gemmomittel bei der Behandlung von akuten Infekten, aber auch bei chronischen Erkrankungen, zum Beispiel bei hormonellen Störungen wie Menstruations- oder Menopausenbeschwerden oder bei chronisch wiederkehrenden Infekten wie Blasenentzündungen, chronischer Prostatitis oder Darmentzündungen. Ein weiteres Indikationsgebiet sind durch innere Anspannung bedingte psychosomatische Leiden. Für die Selbstbehandlung bieten sich die Anwendungsbereiche an, für die wir uns auch mit Hausmitteln behelfen: Erkältungen im Anfangsstadium, leichte Magenverstimmungen, Nervosität und schlechter Schlaf, Spannungskopfschmerzen, Regelschmerzen, Unwohlsein. Die Gemmomazerate regulieren und stimulieren.

Ist die Wirkung von Gemmotherapie wissenschaftlich belegt – und gibt es Nebenwirkungen?
Eine Besonderheit der Gemmotherapie und ihres therapeutischen Einsatzes nach Dr. Pol Henry ist die Orientierung an den Krankheitsstadien und den charakteristischen Veränderungen der Bluteiweiße in den entsprechenden Stadien. Denn dass sich unter Einnahme der Gemmomazerate individuelle und charakteristische Zusammensetzungen der Bluteiweiße ergeben, konnte Dr. Pol Henry mithilfe der Proteinelektrophorese nachweisen. Diese in der Forschung öfters angewandte Untersuchung konnte aufzeigen, dass jede Baum- oder Strauchknospe einen anderen Anteil der Bluteiweiße beeinflusst.

Eine Veränderung der Bluteiweiße findet aber auch ganz natürlich im Körper statt, wenn er akut oder chronisch erkrankt. Dr. Pol Henry hatte die Idee, die Bluteiweißveränderungen auszugleichen, die durch Krankheiten entstehen, und zwar mit den passenden gemmotherapeutischen Mitteln. Dies hat auch Auswirkungen auf die Selbstbehandlung: Im akuten Stadium einer Erkrankung ist eine Selbstbehandlung möglich. Sobald eine Erkrankung länger anhält oder wiederkehrt, muss ein Arzt oder Heilpraktiker die Behandlung begleiten. Nebenwirkungen sind nicht bekannt.

Für gemmotherapeutische Arzneimittel werden Extrakte aus mindestens 20 verschiedenen Pflanzenknospen verdünnt. Wie bestimmt man, wann welches Präparat sinnvoll ist – und wie werden die Sprays oder Tinkturen dosiert?
Entsprechend der ermittelten Krankheitssymptome werden Einzelmittel mit dem passenden Wirkspektrum gewählt. Hier ist die Begleitung durch einen Arzt oder Heilpraktiker hilfreich, bei schwereren Erkrankungen unumgänglich. Das Spektrum der Gemmotherapie geht weit über 20 mögliche Mazerate hinaus. Im Handel sind jedoch rund 20 Mittel erhältlich.

Manchmal ist der Einsatz eines einzigen Knospenmittels nicht ausreichend. Es sind durchaus Kombinationen von mehreren Gemmosprays möglich. Diese können entweder zeitlich versetzt oder in kombinierter Gabe als sogenannte Komplexmittel angewendet werden. Die Gemmotherapie kann problemlos mit anderen Therapiemethoden aus dem schulmedizinischen oder komplementärmedizinischen Bereich kombiniert werden. Bei Glycerolmazeraten handelt es sich um Mundsprays oder Tropfen. Falls Sie sich fragen, warum gerade Mundsprays, so lautet die einfache Antwort, dass die Mundschleimhaut die Inhaltsstoffe sehr rasch und vollständig aufnimmt. Müssten die wertvollen Stoffe den weiten Weg durch den Magen-Darm-Trakt und die Leber nehmen, würden sie zu 80 Prozent zerstört.

Die Sprays oder Tropfen werden direkt auf die Mundschleimhaut gesprüht oder geträufelt – sie schmecken sehr angenehm. Wir empfehlen einen zeitlichen Abstand von etwa 15 Minuten, bevor Sie etwas essen oder trinken, damit die Wirksamkeit nicht beeinträchtigt wird. Übrigens: Sollte Ihnen oder Ihrem Kind die Aufnahme über den Mund unbehaglich erscheinen, gibt es eine weitere gute Möglichkeit, den Körper mit dem gemmotherapeutischen Mittel zu versorgen: Sprühen Sie es einfach in die Ellenbeuge. Das klingt merkwürdig und es klebt ein wenig, das Mittel wird aber durch die Haut direkt dem Organismus zugeführt. Die Mundsprays werden folgendermaßen dosiert: Erwachsene dreimal täglich zwei bis drei Sprühstöße und im Akutstadium bis zu zehnmal ein Sprühstoß, bei Kindern dreimal täglich ein bis zwei Sprühstöße.

Inwiefern unterscheidet sich Gemmotherapie von Phytotherapie, in deren Mittelpunkt ja ebenfalls die Heilkraft von Pflanzenextrakten steht?
Für die Gemmotherapie wird nur das Wertvollste der Pflanze verwendet: Knospen oder junge Triebspitzen. Hierbei handelt es sich sozusagen um das Embryonalgewebe der Pflanzen. Es hat erstaunlich hohe Wirkstoffkonzentrationen, die bei der Verwendung aller Pflanzenteile nicht erreicht werden können. Zudem fehlen die später gebildeten sogenannten Sekundärstoffe, welche zu allergischen Reaktionen oder sogar Vergiftungen führen könnten. Die Gemmotherapie unterscheidet sich also durch die überaus wertvollen und hochkonzentrierten und zudem ungiftigen Inhaltsstoffe – sie ist sozusagen eine Frischzellenkur aus Pflanzenextrakten.

Gemmotherapie kommt unter anderem bei Frauenbeschwerden zum Einsatz. Wie können Extrakte aus Pflanzenknospen typische Wechseljahresbeschwerden wie Stimmungsschwankungen oder Hitzewallungen lindern?
Die Gemmomittel regulieren, stimulieren und reinigen. Durch diese sanfte Wirkung, die sich nach und nach entfaltet, wirken sie lindernd auf Beschwerden. Die regulative Wirkung der Mittel setzt erst nach einer gewissen Dauer ein, sie sollten also über einen gewissen Zeitraum regelmäßig eingenommen werden, um ihre Wirkung entfalten zu können. Wechseljahrbeschwerden sind durch die Veränderungen der Hormonkonzentrationen bedingt und stehen dadurch auch im Zusammenhang mit den hormonkontrollierenden Zentren im Gehirn. Hier setzt die Wirkung der Pflanzenknospensprays an, indem diese vernetzten hormonellen Funktionen besser ausbalanciert werden. Dadurch geht die Häufigkeit und Intensität der Wallungen zurück. Aber auch Schlafstörungen und Stimmungsschwankungen werden positiv beeinflusst.

Welche Gemmopräparate empfehlen Sie Frauen in den Wechseljahren?
Unter Wechseljahrsbeschwerden verstehen die meisten Frauen unregelmäßige oder übermäßige Blutungen, Hitzewallungen mit oder ohne Schweißausbrüche, den Kampf mit dem steigenden Körpergewicht, ein schwer einzuordnendes Gefühl des Überfordertseins, Schlafstörungen und mehr. Diese Erscheinungen sind Ausdruck der hormonellen Veränderungen, die durch das Altern der Eierstöcke entstehen. Die Hormonschwankungen sind teils sehr ausgeprägt und belastend. Die Gemmotherapie kann in dieser Zeit des Wechsels helfen, dass sich die Hormonschwankungen weniger stark auswirken.

Das Gemmomittel aus den Knospen der Himbeere (Rubus idaeus) ist hier ein zuverlässiger Begleiter. Die östrogenartige Wirkung der Himbeere ist in den Wechseljahren äußerst willkommen. Deshalb wird empfohlen, das Himbeerknospenmazerat in der Dosierung von dreimal drei Sprühstößen über mehrere Monate regelmäßig einzunehmen. Die Preiselbeere (Vaccinium vitis idaea) hilft bei chronischen Beschwerden des Alterns. Ihre besondere Nähe zum Organismus der Frau lässt sie ihr breites Spektrum entfalten. Sie hilft bei Hitzewallungen, fördert die Kalziumaufnahme und ist daher nützlich zur Vorbeugung gegen Osteoporose, die häufig in der Menopause beginnt. Das Mittel beugt zudem Blasenentzündungen vor. Zu empfehlen sind je drei Sprühstöße drei- bis sechsmal täglich. Das Gemmopräparat kann bedenkenlos über längere Zeit eingenommen werden.

Haben die Pflanzenextrakte auch vor und nach der Menopause einen positiven Effekt?
Die Himbeere, die in ihrer östrogenartigen Wirkung wie geschaffen ist für den weiblichen Organismus, kann die Frau ein Leben lang begleiten. Sie lindert das prämenstruelle Syndrom, gleicht Menstruationsstörungen aus und unterstützt in der Zeit der Wechseljahre. Auch das Thema Well-Aging der Frau wird durch die Himbeere unterstützt. Hier wäre außerdem das Extrakt aus Birkenknospen zu erwähnen, welches entwässernd wirkt und dadurch ebenfalls Einfluss auf prämenstruelle Beschwerden wie schmerzhafte und geschwollene Brüste hat.

Welche Mittel können Gemmo-Einsteiger sich als „Basisausstattung“ gegen die gängigsten Gesundheitsbeschwerden, etwa Kopfschmerzen, Verdauungsprobleme oder Erkältungssymptome, zulegen?
Jede Knospe oder Triebspitze weist vielfältige Eigenschaften auf, zeigt aber auch Schwerpunkte in einzelnen Bereichen. Eine aufgrund ihres breiten Einsatzspektrums wichtige Knospe in der Gemmotherapie und ganz sicher die am besten untersuchte ist Ribes nigrum, die Schwarze Johannisbeere. Die nachgewiesenen entzündungshemmenden Eigenschaften, die das Arzneimittel zu einer Art pflanzlichem Kortison machen, helfen bei allen Formen von akuten Entzündungen und Allergien. Daher wird das Gemmospray einerseits bei allergischen Erkrankungen wie Heuschnupfen und Ekzemen eingesetzt. Andererseits kann man es bei akuten oder wiederkehrenden Erkältungen oder Entzündungen im Hals-Nasen-Ohren-Bereich sowie bei akuter oder chronisch wiederkehrender Bronchitis anwenden. Auch bei den chronisch-entzündlichen Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts kann es gute Unterstützung leisten. Es wirkt abschwellend, schmerzlindernd und erhöht die lokale Abwehr. Bei Verdauungsproblemen stehen die durch Nervosität bedingten Magenbeschwerden an erster Stelle. Hier kann ein Gemmospray aus den Knospen des Feigenbaumes, Ficus carica, äusserst hilfreich sein. Ein viel gebrauchter Begleiter ist zudem das Silberlindenknospenspray, Tilia cordata. Es hilft am Abend den Übergang zum Schlaf zu verbessern.

Wo können Frauen, die sich für Gemmotherapie interessieren, sich beraten lassen? Bieten auch Heilpraktiker oder Homöopathen eine gemmotherapeutische Behandlung an?
Während die Gemmotherapie in Frankreich und der Schweiz schon lange Beachtung und Anwendung findet, wird sie in Deutschland gerade erst bekannt. Aus diesem Grund haben ein deutsch-schweizerisches Team aus zwei Ärztinnen, zwei Medizinjournalisten und einer Social-Media-Expertin einen Verein gegründet: die Gemmo-Community. Auf ihrer Website findet man vielfältige Informationen zu den Pflanzen, Knospen, Anwendungsgebieten – und bald auch eine Therapeutenliste.