Familie

Tabu-Thema Transgender: „Mein Sohn ist heute eine Frau“

Transgender | © Getty Images | nito100
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Wie fühlt es sich an, wenn der eigene Sohn sich dazu entscheidet, eine Frau zu werden? Für DONNA berichtet eine Mutter von ihren ganz persönlichen Erfahrungen mit dem Thema Transgender.

Über Transgender wusste Monika Ahrens fast nichts. Bis ihr Sohn erklärte, er sei jetzt Amelie. Die Geschichte einer Verwandlung – und wie eine Mutter sie erlebte.

Die Haut wie Marzipan, die Wangen rosig. Das Haar lockt sich ums Gesicht, in den Augen schimmert Verliebtheit. Wie anmutig sie ist! Amelie besucht mich zum Frühstück, gemeinsam mit ihrem neuen Freund – eine Szene, die ich lange für völlig unmöglich hielt.

Amelie kam als Simon zur Welt. Eine letzte unerwartete Schwangerschaft, in der ich sehr auf ein Mädchen hoffte. Als ich erfuhr, dass wieder ein Junge unterwegs war, spürte ich Enttäuschung, das Gefühl zum Baby veränderte sich. Ein Mädchen, so glaubte ich, wäre mir emotional näher gewesen. Simon wurde ein empfindsames, stilles Kind, interessierte sich auffallend früh für die großen Themen des Lebens und hatte wenige Freunde. Ich hatte das Gefühl, ihn besonders beschützen zu müssen. In der Pubertät wurde er depressiv und zog sich immer mehr zurück. Nachdem die drei Geschwister ausgezogen waren, war er abweisend, teils arrogant, wie eingefroren. Er provozierte im Leiden Zuwendung – und doch bekam ich keinen Zugang. Oder nur in seltenen Sternstunden. Ein Lächeln, gar Lachen waren unvorstellbar. Aktion, Leben, Bewegung? Nicht für ihn.

Es war wirklich schwer, damit zu leben. Ich sorgte mich ständig, außerdem litt ich massiv unter Schuldgefühlen. Denn auch bei mir lief nicht alles rund – Trennungen, neue Partner, dennoch immer alleinerziehend, Vollzeitjob, zu wenig Zeit für die Kinder…Ich versuchte zu verstehen, wie man mit einem depressiven Kind lebt, ich übte die Gratwanderung zwischen Helfen‐Wollen und gesundem Abstand.

Was mir in all den Jahren selten in den Sinn kam: ein wenig Mitgefühl für mich selbst zu entwickeln. Eigentlich halte ich mich für jemanden, der versucht, das Beste aus jeder Situation zu machen oder zu akzeptieren, was ich nicht ändern kann. Aber bei Simon fehlte mir ein Stück Vertrauen, dass alles ohne mein Zutun gut werden würde. Hin und wieder gab es kostbare Momente, in denen er mich an seinem Innenleben teilhaben ließ. Und da tat sich wahrhaftig viel. Er hatte ausgefallene Interessen, in die er viel Zeit und Mühe investierte, oft auch sehr erwachsene Einsichten. Ich durfte tagebuchartige Texte auf seinem Tablet lesen, manchmal auch etwas extra für mich Ausgedrucktes. Tiefes Verständnis und Zuneigung mir gegenüber. Aber auch Abschiede, Selbstzweifel, ein schlimmes Hin- und Hergerissensein – Zustände, die mir selbst absolut fremd waren und mich sehr aufwühlten.

Dann irgendwann, Simon war 17, gab es eine Zeichnung. Ein schmales Mädchengesicht mit großen Augen. Ein Traum, der so deutlich war, dass Simon ihn zu Papier gebracht hatte. Einige Zeit später: „Mama, wie findest du den Namen Amelie…?“ Ich ahnte die Richtung, verstand das aber als Phase der Depression: in eine andere Identität flüchten zu wollen. Doch mein Kind blieb auf seiner Spur: Langsam, aber stetig begann Simon, sich in Amelie zu verwandeln. Die störenden Barthaare wurden entfernt – eine teure Behandlung, die er/sie selbst finanzierte. Es folgte die Suche nach einem spezialisierten Therapeuten, das Fernziel war eine Hormonbehandlung.

Pakete mit Mädchenkleidung wurden geliefert: dezent, immer in Simons Stil, zurückhaltend, dunkle, gedeckte Farben, keine schrillen Girlie-Klamotten. Ab und zu durfte ich sehen, wie ihm die Sachen standen, doch sobald Simon nach draußen musste, „verkleidete“ er sich wieder männlich. Bald bestand er darauf, mit Amelie angesprochen zu werden – für mich eine wirklich schwierige Aufgabe. Ich habe seinen Namen ausgesucht, ihn taufen lassen, hunderttausendmal „Simon“ gerufen, gesungen, geflüstert – es fühlte sich sehr unnatürlich an, plötzlich „Amelie“ zu sagen. Und doch übte ich tapfer, denn ich spürte, dass es ihm (oder wohl langsam: ihr) ernst war.

In diesen Monaten lernte ich immer mehr über die vielfältigen Zwischenformen der Geschlechter, ein Thema, über das ich erstaunlich wenig wusste. Ich lernte mindestens ebenso viel über meine eigenen Vorurteile, dabei hatte ich mich immer für besonders tolerant gehalten. Schwule und Lesben, kein Thema, aber noch mehr Vielfalt? Das überforderte mich, ich hatte den Impuls, dämliche Ami‐Filme zu schauen, in denen die Welt am Ende wieder total „in Ordnung“ ist. Eine Illusion, natürlich.

Was mir Kummer machte: der Abschied von meinem kleinen, zarten und so geliebten Söhnchen ebenso wie vom geheimnisvoll androgynen jungen Mann. Erinnerungen wehten mich an: die ganze Familie am Flughafen, unsere Große wurde ins Ausland verabschiedet und meine erwachsenen Söhne standen hinter mir wie eine wunderbare Mauer. Familiäre Einheit, Stärke, alle drei groß, gutaussehend, in schwarzen Mänteln – ich fühlte warmen Mutterstolz. Dass ich mich dann doch auf die Wandlung, oder, wie Amelie das nennt, die Anpassung einlassen konnte, lag sicher daran, dass sie von einer spürbaren psychischen Gesundung begleitet wurde.

Eine Hürde für mich war das Outing gegenüber Familie, Nachbarn und Freunden. Zuerst flüchtete ich mich tatsächlich in Notlügen: „Das ist meine Nichte…“, ich fürchtete schockierte Blicke. Umso erleichternder, wie viele Menschen aus meinem Umfeld mit Interesse und Verständnis reagierten.

Inzwischen ist Amelie, 24, ausgezogen, der Abstand tut uns außerordentlich gut. Die Hormone zeigen Wirkung, es entwickeln sich sanfte Rundungen, auch Gestik und Mimik haben sich verändert. Jetzt plant sie den vorerst letzten Schritt, eine OP zur Anpassung der Geschlechtsorgane. Mir widerstrebt, alle Details zu kennen, geschweige denn, mir ein OP‐Video anzuschauen. Ich habe spießige Gedanken: Wie kann sich ein gesunder, junger Mensch dem aussetzen…sie war doch perfekt…okay, er…wird sie das bereuen…was habe ich falsch gemacht? Aber dann finde ich sie wieder konsequent und erwachsen und weiß, ich muss und kann die Verantwortung an sie abgeben.

Seit sie die Liebe kennengelernt hat, sehe ich sie seltener. Der Himmel hat ihr diesen Mann geschickt – und mir eine jahrelange Verantwortung von den Schultern genommen. Amelies Freund ist freundlich und angenehm. Sie hält seine Hand, wirft ihm liebevolle Blicke und ein scheues Lächeln zu, zupft unsichtbare Fussel von seinem Pulli – eine Augenweide, die beiden. Das Leben ist bunt.

Protokoll: Silke Heuschmann

Trans… was? Die Fakten

Transgender: Transfrauen und Transmänner fühlen sich mit dem Geschlecht, das ihnen aufgrund ihrer äußeren Geschlechtsmerkmale per Geburt zugewiesen wurden, falsch beschrieben. Sie können oder wollen damit nicht leben und streben oft eine Anpassung an das gefühlte Geschlecht an.

Intersexualität: Intersexuelle Menschen (früher auch Zwitter genannt) können genetisch oder anatomisch und hormonell nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden.

Transqueer oder Queer sind Personen, deren Geschlecht oder Sexualität sich nicht mit „männlich” oder „weiblich” festlegen lässt bzw. die diese Festlegung verweigern.

Wie verbreitet ist Transgender?
Es gibt kaum aussagekräftige Daten. Sicher ist: In Deutschland haben im Jahr 2013 1417 Menschen ihre Identität per gerichtlichem Entscheid gewechselt.

Wie sieht die rechtliche Situation aus?
Seit 1981 gilt in Deutschland das Transsexuellengesetz, das erlaubt, den Vornamen und den Eintrag „männlich” oder „weiblich” im Personenstandsregister zu ändern.

Voraussetzung: Die Person lebt seit mindestens drei Jahren unter dem anderen Geschlecht und am Zugehörigkeitsgefühl wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts ändern (dazu ist ein Gutachten erforderlich).

Welche Voraussetzungen müssen für eine OP erfüllt sein?
Für eine geschlechtsangleichende OP braucht es in den meisten Fällen eineinhalb Jahre Psychotherapie, zwei unabhängige Fachgutachten und mindestens sechs Monate Hormontherapie. Mehr Details dazu unter trans-infos.de.