Liebe & Partnerschaft

Urlaub im FKK-Dorf: Allein unter Nackten

Nackte Füße im Sand | © iStock | cdwheatley
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Allein unter Nackten: ein FKK-Erfahrungsbericht

Ihr Mann liebt FKK-Urlaub. Und Jessica kommt ihm zuliebe mit - auch wenn sie viel lieber angezogen bleibt. Doch in Cap d'Agde, dem größten Nudisten-Dorf der Welt, gerät die 44-Jährige an ihre Grenzen.

Bitte, ich möchte nicht den Anschein geben, prüde zu sein, auch, wenn man das vielleicht vermuten könnte, wenn man weiß, dass ich in einer kleinen, gesitteten Grafschaft nordwestlich von London aufgewachsen bin. Meine Familie ist seit vielen Generationen fester Teil unserer anglikanischen Gemeinde und legt diesbezüglich größten Wert auf die Einhaltung gewisser Konventionen. Was schicklich ist, habe ich von klein auf eingetrichtert bekommen. Nacktsein gehörte definitiv nicht dazu - nicht mal innerhalb der Familie. Meine Großmutter empfand es noch als empörend, auch nur eine entblößte Fußfessel zu präsentieren und auch meine Eltern habe ich niemals ohne Kleidung gesehen. Natürlich ging ich auf die besten kirchlichen Schulen, aber, um ehrlich zu sein, war ich ein personifiziertes Lern-Desaster und schaffte den Abschluss nur mit Hängen und Würgen. Statt zu studieren, zog ich erst mal um die Welt, blieb schließlich in Berlin hängen, heuerte in einem Übersetzungsbüro an, in dem ich mittlerweile Teilhaberin bin, lernte mit 33 meinen Mann Martin kennen und bekam mit ihm zwei Töchter, Carla und Greta, heute 9 und 7.

Martin, dessen Familie aus Ostdeutschland stammt, ist Lehrer und der freigeistigste Mensch, den ich kenne. Dass es ihn nicht schert, was andere von ihm denken und er sich niemals verbiegt, ist das, was ich am meisten an ihm liebe. Ach, eigentlich liebe ich alles an ihm - bis auf eine absolut einzige Ausnahme: Martin ist, im wahrsten Sinne der Worte, mit Leib und Seele Nudist. Oder, schlimmer noch: Naktivist, wie er sagt. Und diese Leidenschaft möchte er unbedingt einmal im Jahr ausleben. In unserem Urlaub.

Pünktlich zu Beginn der Sommerferien packen wir also unsere Koffer (bei FKK eigentlich ein Widerspruch in sich) und fahren der Textilfreiheit entgegen. In den ersten Jahren unserer Ehe lag das Ziel regelmäßig an der Ostseeküste: Rügen, Hiddensee, Fischland-Darß-Zingst, überall dort, wo Martin mit seiner Familie die Ferien verbracht hatte, seit er denken kann. Mit dabei waren auch immer Martins Mutter Helga und ihr zweiter Mann Karl-Heinz, genannt Kalle. Während sie alle, wie Gott sie schuf, über den Strand und durch die Wellen tobten, saß ich in Wollpulli und Tücher verhüllt wie eine Beduinin hinter unserem Windschutz. "Willst du dich nicht ausziehen?", fragten sie mich unermüdlich und ebenso unermüdlich antwortete ich: "Danke, nein, mir ist zu kalt."

Meine Ausrede rettete mich bis vor genau drei Jahren. Dann nämlich wurde es auch Helga und Kalle an der Ostsee zu frostig und sie entschieden, ihren Lebensmittelpunkt von März bis Oktober nach Südfrankreich zu verlegen und kauften sich einen Reihenbungalow in Cap d'Agde, dem größten Naturisten-Zentrum der Welt. Mein Martyrium begann. "Jetzt musst du nicht mehr frieren", sagte Martin beim Anflug auf Toulouse, wo uns seine Mutter (zu meiner Erleichterung bekleidet) mit dem Wagen abholte. Und auch Helga frohlockte: "Endlich, Jessie, kannst auch du mal drei Wochen lang völlig nackt und unbeschwert das Leben genießen." Ihre Worte ließen mich innerlich derart erschaudern, dass ich mich bei 31 Grad Außentemperatur sofort nach Wollpulli und Tüchern sehnte. Die Realität aber übertraf all meine Albträume. Sobald wir am Port Ambonne die Schranke zur textilfreien Zone von Cap d'Agde passierten, sah ich nur noch eines: frei laufendes rohes Fleisch. In ungeheuren Mengen. Von babyrosa über krebsrot bis zu kohlebraun. In den Straßen, am Strand, zu Fuß, auf Fahrrädern, im Auto.

"Willkommen im Paradies", rief Helga verzückt und setzte zu einer ausführlichen Erklärung an: "Das 'Quartier naturiste' besteht aus Campingplätzen, Hotels in den unterschiedlichsten Kategorien und Häusersiedlungen, etwa dem 'Port Nature', wo wir wohnen." Sie wusste, dass das FKK-Camp schon 1950 gegründet wurde und mittlerweile Jahr für Jahr 1,5 Millionen Besucher beherbergte. "Es gibt", fuhr sie begeistert fort, "Supermärkte, Banken, Schwimmbäder, Arztpraxen, Friseure, Cafés, Restaurants - einfach alles. Man muss das Dorf gar nicht mehr verlassen, ist das nicht beeindruckend?" Ich nickte, obwohl ich es eigentlich nur schrecklich beängstigend fand.

Am Haus erwartete uns Kalle. Er trug eine Schürze, braune Sandalen mit beigen Socken, einen Sonnenbrand am Rücken und sonst ... nichts! "Herein, herein", drängte er. "Geht gleich durch auf die Terrasse, das Essen ist sofort fertig und ein paar Freunde sind auch schon da." Um den Grill im Garten standen vier in die Jahre gekommene Adams ohne Feigenblatt, aber mit Bierflasche in der Hand. Ich starrte abwechselnd auf die Stelle unterhalb ihrer wuchtigen Bäuche und die noch blassen Würstchen auf dem Rost. "Kalle", piepste ich mit überschlagender Stimme, "gibt es auch Gemüse zum Grillen?". "Seit wann bist du denn Vegetarierin", fragte er erstaunt. "Seit eben jetzt", sagte ich.

Mit größter Verwunderung musste ich zusehen, wie schnell sich mein Mann und meine Töchter mit der Freikörperkultur arrangierten. Tatsächlich zogen sie, ebenso wie Helga und Kalle, rein gar nichts mehr an und genossen es sichtlich. Sie spielten unbekümmert mit wildfremden Menschen Boule, während mich die weiblichen und männlichen Körperteile, die beim Werfen und Aufheben der Kugeln in Schwingung gerieten, komplett aus dem Konzept brachten. Es ließ sie beim Einkaufen völlig unbeeindruckt, dass sich die (bekleideten) Kassiererinnen ständig auf Augenhöhe mit Genitalien befanden, die auch gerne mal mit Tattoos und Piercings verziert waren. Und keiner von ihnen regte sich mit mir auf, wenn bei der ein oder anderen Frau ein blaues Bändchen zwischen den Beinen hervorblitzte.

Doch trotz meines Entsetzens versuchte ich mein Bestes, um mich anzupassen. Ich betete, dass meine englische Familie niemals davon erfahren würde, und zog mich zumindest am Strand komplett aus. Auch ins Meer wagte ich mich nackt, was allerdings einem Spießrutenlauf glich, weil der Strand unendlich flach abfiel und es eine Ewigkeit dauerte, bis mein Körper endlich vom Wasser umhüllt war. Doch ansonsten wickelte ich mich konsequent in Pareos und ertrug stoisch allen Spott. "Sei froh", witzelte Helga immer wieder, " dass es hier keine Nudisten-Polizei mehr gibt. Die sorgte früher ganz streng dafür, dass alle nackt waren."

Soweit ich das übersehen konnte, brauchte es in Cap d'Agde aber auch keinerlei Exekutive, um textile Vergehen zu ahnden. Außer mir und ein paar anderen Widerständlern, von denen niemand großartig Notiz nahm, zeigte sowieso niemand etwas anderes als bloße Haut. "Ist doch alles nur natürlich", sagte Martin. "Ich merke schon gar nicht mehr, dass die Leute hier nackt sind." Ich merkte es wohl. Und meine Libido auch. Je mehr Nacktheit ich sah, desto weniger Lust auf Liebe hatte ich. Das wiederum merkte Martin sehr schnell - und entführte mich für zwei Nächte in ein sehr seriöses, FKK-freies Hotel in Sète. Und dieses Jahr machen wir Urlaub in England. Ganz prüde bekleidet.

 

Protokoll: Gaby Ullmann